Hanns-Josef Ortheil

Ich will von meiner Werkstatt erzählen, Schritt für Schritt. Ich will beim Einfachsten anfangen und danach versuchen, die Architektur eines Baus zu beschreiben. Dieser Bau hat sich seit der Kindheit ohne große Planungen wie von selbst ergeben und entwickelt.

8. August 2017

Werkstatt Folge 4: Außenarbeiten

In Folge 4 dieser Werkstatt- und Schreibszenen gehe ich zum ersten Mal nach draußen. Ich bewege mich in einer Stadt, einer Ortschaft oder in der freien Natur und suche nach einem Platz, von dem aus ich die Umgebung um mich herum schriftlich fixiere. Das Fixieren erfolgt in ein Notizheft (Spiralbindung, mit heraustrennbaren Seiten), in dem ich den Raumeindruck und die Raumatmosphären festhalte. Meine Beobachtungen heften sich zunächst an Details und versuchen danach, den Zusammenklang dieser Details zu erkunden: Was macht diese Raumszene angenehm? Was stört? Welche Farblichkeit wirkt nach? Wie bewegen sich die Menschen in diesem Raum? Ein solches Erfassen des Raums ist eine gute Übung. Ich setze mich dem Raum aus und bewege mich schreibend von seinen Äußerlichkeiten hin zu seiner Essenz. Dieses Fixieren erfordert ein großes Maß an Konzentration. Lässt sie nach und werde ich gegenüber dem Raum freier, melden sich die ersten Assoziationen, die vom jeweiligen Raum wegführen: Ist der Raum ein literarischer?

Wie sähe eine literarische Szene aus, die in ihm spielen würde? Assoziationen notiere ich nicht mehr in das Notizheft, sondern in ein Heft mit Ideen und Einfällen, die ich für sich stehen lasse. Sie sind gespeichert, damit ich immer wieder auf sie zurückkommen kann. Wiederlektüren von Ideen und Einfällen können dazu führen, dass sie im Kopf zu wuchern beginnen. Dann setze ich sie auch schriftlich fort, und aus ihnen entwickeln sich (im besten Fall) Figuren und eine Geschichte. Das ist der Moment, in dem sich bestimmte Assoziationen in ein Schreibprojekt verwandeln. Für Schreibprojekte verwende ich Skizzenhefte (gebunden, keine Spiralbindung), in die ich nacheinander die Fortsetzungen des Projekts eintrage. Gleichzeitig beginne ich mit Recherchen. Ich erkunde Details, erweitere die Geschichte, lasse sie kochen. Schließlich füllt sie ein ganzes Skizzenheft. Das wäre der Moment, in dem das eigentliche Schreiben (die erste Niederschrift) beginnt.

8. August 2017

Werkstatt Folge 4: Außenarbeiten

12. Juni 2017

Werkstatt Folge 3: Driften

In Folge 2 dieses Werkstattberichts habe ich von der Ursuppe kleiner Notate erzählt, die ich an jedem Tag auf den Seiten eines Schreibtischplaners fixiere. Sie bestehen aus Protokollen von Telefonaten, Kommentaren zu ausgeschnittenen Zeitungsartikeln oder Fotos sowie aus Ideenfunken, die mir gerade durch den Kopf gehen. Ich reihe sie untereinander, und so ergibt sich Tag für Tag eine Art Stream der fortlaufenden Einfälle und Überlegungen. Jetzt, in Folge 3, denke ich darüber nach, was mich jeweils anregt und zu einem Notat verleitet. Das Notieren folgt keinem Plan, sondern ergibt sich von Situation zu Situation. Ich schwimme durch die Tagesmeldungen und Nachrichten, ich drifte ab, schreibe sie um, verwandle sie, ohne zu ahnen, wo ich Teile dieses Stroms noch einmal verwenden werde. Das Ganze macht den Eindruck eines spontanen Trainings: der schnellen, assoziativen Reaktionen, des Weiterleitens und Weiterdenkens, der kleinen Entdeckungen.

Dieses Training lässt mich wach bleiben, es fordert mich, und es lässt ein Netz von Motiven und Themen entstehen, die mit mir selbst zunächst nur in zweiter Hinsicht etwas zu tun haben. Vergleichbar ist das mit der kompositorischen Arbeit an einem Thema mit Variationen. Das Thema oder Motiv ist von außen vorgegeben. Zieht es mich an, beginne ich das Spiel. Manchmal bleibe ich stecken, dann ist die Magie des Themas erloschen. Oder aber es stößt eine weiterreichende Folge von Seitenthemen an, die zu einer Um- oder Neuformulierung des Themas führen. Warum ich so arbeite? Aus purer Begeisterung, ich freue mich an jedem Morgen darauf. Was gibt es Neues an gutem Material? Worauf reagiere ich? Und wohin führen meine Reaktionen? Vielleicht handelt es sich um eine Methode, jenen Raum ausfindig zu machen, in dem mein Denken und Fantasieren das geeignete, überraschende Futter erhält. Ich käue wieder, ich versenke mich in etwas Fremdes, ich vermesse, wohin ich gehöre – und das alles mit Hilfe des Blicks auf die vielfältigsten Zeichen und Spuren der Welten um mich herum.

12. Juni 2017

Werkstatt Folge 3: Driften

12. März 2017

Werkstatt Folge 2: Die Ursuppe

Ich erzähle weiter von meiner Werkstatt, Schritt für Schritt. Auf den leeren Schreibtisch (rechteckig, vor einem Fenster mit Blick in die Ferne) lege ich frühmorgens das DIN A4-Blatt eines Schreibtischplaners (im Querformat). Ganz nach links oben notiere ich den Wochentag und das Datum. Dann warte ich auf das Gestöber im Kopf: Ideenfunken, Nachtreste von Träumen, Nachrichten des vergangenen Tages. All das hat mit den literarischen Arbeiten für einen späteren Druck nichts zu tun. Es ist vielmehr die Ursuppe des Tages, das Gemenge von kleinen Themen, die das Hirn im weiteren Tagesverlauf ordnet und umgruppiert. Das Gestrige verschwindet langsam, neuste Nachrichten treten an seine Stelle. Jemand ruft mich an, und ich lasse mich auf das Telefonat ein, weil ich von diesem Jemand etwas erwarte. Eine winzige erfrischende Perspektive. Das Aufstoßen einer schmalen Tür zu einem vertrauten, aber neu und anders zugänglichen Gelände. Brodelt die Hirnsuppe, rufe ich sogar selbst jemanden an und tue so, als hätte auch ich lauter schmale Türchen zu bieten.

All diese blitzartigen Hirnprozesse protokolliere ich. Ich nummeriere sie durch und schreibe so merkwürdige Sätze wie: 9.36 Uhr, Anruf HJD. Ob er ein Foto des Hochaltars der Josefskapelle in Mainz schicken solle? Ein wunderschöner barocker Altar, den er gestern zum ersten Mal gesehen habe und von dem er annehme, dass ich ihn nicht kenne. Ich bitte HJD, drei Fotos zu schicken: Frontal und von beiden Seiten. An guten Tagen ist die DIN A4-Seite (Querformat) bereits am frühen Mittag voll, an sehr guten Tagen fülle ich drei Seiten mit Tagesprotokollen. Später markiere ich die wichtigen, die Spreu lasse ich unmarkiert stehen (sie ist das Beste). Bei alldem kommen an jedem Tag andere Stifte zum Einsatz. Bleistifte, Faserschreiber, Kugelschreiber, Füller … ich besitze eine große Heerschar, die ich an jedem Abend in einen Sack sperre, um ihn am Morgen auf dem leeren Tisch auszugießen. Der Zufall spielt also mit, die Tagesprotokolle der Ursuppe sind Surrealismus.

12. März 2017

Werkstatt Folge 2: Die Ursuppe

27. September 2016

Werkstatt Folge 1: Der Tisch

Von den Anfängen habe ich in dem Roman Der Stift und das Papier erzählt. Das Einfachste dieses Anfangs ist ein leerer Tisch. Es ist der Tisch, an den ich im besten Fall Tag für Tag zurückkehre, um an ihm zu arbeiten. Dadurch hat er etwas stark Heimatliches, egal, wo er sich gerade befindet. Er hat aber auch etwas von Zuflucht und Isolation. In seiner Umgebung ist es zumeist totenstill. Wenn ich von ihm aus aufschaue, sehe ich oft in eine weite Ferne. Das ist immer so gewesen: Ein kleiner Stuhl, ein großer, anfänglich leerer Tisch, der Blick in die weite Ferne. Als wäre genau das die Urkonstellation meines Lebens: Dass ich an einem Tisch sitze, kurz in die Ferne schaue und mich danach in eine äußerste Nähe (zu mir selbst und den wenigen Dingen um mich herum) zurückziehe. Heimat, Zuflucht, Rückzug – das ist der Tisch. Ich schmücke ihn nie. Keine Fotografien, keine Blumen, keine Erinnerungsstücke.

Mein Tisch ist immer leer, auch später, wenn sich längst die ersten Schreibmaterialien auf ihm befinden. Die Tischplatte ist das große Rechteck, das die kleinen Rechtecke der Seiten rahmt und hält. Wenn ich davor sitze, lebe ich in den Verhältnissen dieses Rechtecks. Hinter mir ist nichts. Vor mir ist bald auch nichts mehr, denn die weite Ferne wird während der Arbeit immer undeutlicher und verschwimmt schließlich. Was den Tisch manchmal einzig begleitet, ist sehr leise Musik. Sie gesellt sich zum Tisch, sie ist sein Abstraktes. Die Klänge, die ich höre, haben sich an den Rändern des Tisches festgemacht. Sie überschwemmen oder berühren seine Fläche nie. Sie tanzen und wirbeln an den Rändern entlang. Meist jedoch prägen sie die Ränder, die sie als Grenzen markieren. Das Rechteck der Schrift und die Ränder der Noten – das sind die Auftraggeber meiner Werkstatt.

26. September 2016

Werkstatt Folge 1: Der Tisch

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